Sei nicht allzu organisiert …
„Halte dich nicht zu streng an das Gesetz
und sei nicht maßlos im Erwerb von Wissen!
Warum solltest du dich selbst ruinieren?“
(Prediger, 7:16, Einheitsübersetzung [1])
Seit einiger Zeit habe ich den Entwurf für einen Blog-Artikel in der Schublade [2], der sich mit der Frage beschäftigt, ob man wirklich ein „perfektes System“ für seine Notizen- bzw. Dokumentenorganisation benötigt. Oft ist weniger mehr, wollte ich schreiben. Aber kürzlich bin ich auf einen Artikel des Evernote-Mitarbeiters Josh Zerkel gestoßen, der von der „Sintflut der Produktivitätstools“ handelt und mir die Buchstaben aus der Tastatur nimmt. Er schreibt unter anderem:
„Sie [die Kunden] haben Stunden damit vergeudet, Aufgaben neu anzuordnen, Meeting-Formate umzugestalten und Dateien auf ihrem Computer neu zu organisieren – und das ironischerweise, um Zeit zu sparen. …Tools und Tastenkombinationen machen dich nicht produktiver.“
Ordnungssysteme – Kosten ohne Nutzen?
Vor einigen Jahren hat IBM dazu 85.000 Mail-Zugriffe bei 345 Mitarbeitern ausgewertet. Die Frage war: Wer findet schneller das Gesuchte – jene mit einem Ordner-System oder jene, die einfach nur das Suchfeld nutzten. Das Ergebnis:
„Die Mails schlicht im Eingang zu belassen und bei Bedarf zu suchen, ist effizienter und spart Zeit. Wer sich dagegen ein ausgeklügeltes System aneignet, scheitert häufiger daran, wichtige Informationen zügig zu finden.“ [3]
Solche Stichproben-Erkenntnisse darf man nun nicht einfach verallgemeinern. Natürlich haben Ordnungssysteme ihre Vorteile – das merken wir spätestens beim Gang durch den Keller. Aber ob sich der Aufwand bei Person A genauso „lohnt“ wie bei Person B – das ist nicht gar so leicht zu beantworten. Auch wenn bei Workshops oft so getan wird, als sei die Sache klar. Da wird dann gerne von „Volltischlern“ und „Leertischlern“ gesprochen, da werden Ablagesysteme mit Etiketten angepriesen usw. Auch die digitale Übertragung mit Schlagwörtern, Dateiordnern, automatisierten „Workflows“ usw. hat schon lange Einzug im Buch- und Coachingmarkt gehalten. Eines der bekannteren Beispiele ist GTD (Getting Things Done) von David Allen, deutsch: „Wie ich die Dinge geregelt kriege“. Ich weiß, dass etliche meiner Leser hier ihren Alltag nach GTD-Prinzipien organisieren und gut damit fahren. Sie bilden sogar das System in Evernote ab. Prima! Aber viele empfinden solche Methoden als zu starres Korsett. So schreibt ein FAZ-Redakteur nach einem Selbsttest mit den Methoden von David Allen:
„Schnell wird klar: Der neue Coach in meinem Leben ist ein Schleifer. Alles, wirklich alles muss ich erfassen, durcharbeiten, organisieren und durchsehen.“ [4]
Selbstdisziplin – wenn Ordnung erschöpft
Das Problem bei all diesen Methoden: Sie erfordern ein gerüttelt Maß an Selbstdisziplin. In der Alltagssprache wird Selbstdisziplin oft als Persönlichkeitseigenschaft verstanden („Der ist aber diszipliniert.“, „Dem fehlt die Selbstdisziplin.“), was nicht ganz korrekt ist. Überwiegend [5] versteht die Psychologie heute darunter eine Ressource, die „erschöpfbar“ ist. Je anstrengender z. B. ein Tag verläuft, desto „willenloser“ ist man am Abend [6]. Genau genommen ist die Sache noch etwas komplizierter, aber für unsere Fragestellung – wieviel Aufwand sollte man mit einem Ordnungssystem betreiben – mag die Erkenntnis genügen, dass die Befolgung komplexer Systeme „Arbeit“ ist. Und je mehr Arbeit ich in den Aufbau und die Pflege solcher Systeme stecke, desto weniger Zeit – oder „Energie“ – bleibt mir für das eigentliche Ziel. Und trotz aller Ratgeberliteratur: Verhaltensänderungen sind nicht einfach zu bewerkstelligen. Da werden oft Coaching-Ideen aus dem Sport übernommen, die selbst dort nur bei einem kleinen Segment von sehr motivierten Teilnehmern funktionieren (sonst hätten die Fitnessstudios nicht so viele Abbrecher und Karteileichen).
Evernote – ein paar einfache Rezepte
Was bedeutet das nun für den Umgang mit Evernote? Soll man etwa alles einfach nur „abspeichern“ und fertig? Ganz ohne Ordner und Schlagwörter zu verwenden? Es gibt zwar Anwender, die das Programm tatsächlich so handhaben – die Suchfunktion von Evernote ist ja auch wirklich gut -, aber ein bisschen mehr Ordnung ist aus meiner Sicht dann doch hilfreich. Zwar gehört das Paretoprinzip, das ebenfalls in den erwähnten Ratgebern oft bemüht wird und aussagt, dass mit 20 % Einsatz etwa 80 % einer Aufgabe schon erledigt seien, ebenfalls ins Reich der Ordnungsmythen – aber ein Körnchen Wahrheit ist dann doch dran. Oft erreicht man mit einigen wenigen Vorkehrungen Effekte, die im Alltag wirklich nützlich sind. Hier ein paar solcher Vorschläge, die sich bei vielen Evernote-Anwendern im Laufe der Zeit bewährt haben:
Möglichst wenig Notizbücher und Schlagwörter benutzen.
Da gerade das Hinzufügen von Schlagwörtern sehr einfach geht, ist man am Anfang versucht, alle Eigenschaften einer Notiz per Tag zu kennzeichnen: „Foto“, „Urlaub“, „Wien“, „Hotel“, „2015“, „Erlebnis“ und „schön“ oder so. Auf diese Weise entstehen lange Listen von Schlagwörtern, die man später doch nicht nutzt [7]. Selbst wenn man sich da eine bestimmte Ordnung anfangs überlegt hatte – meist nimmt man mit der Zeit Notizen auf, die in das anfängliche Schema nicht mehr passen, man muss es also neu formulieren und sich immer wieder erinnern, wie man es eigentlich aufbauen wollte.
Sich mit den Suchmöglichkeiten von Evernote befassen
Evernote bietet sehr ausgefeilte Suchmöglichkeiten: Ob die Suche nach Zeiträumen, Terminen, Eingrenzungen auf Notizbereiche wie Titel, Status von Checkmarks oder Dokumentenarten – bei einem umfangreichen Archivbestand sind diese Filtermöglichkeiten ausgesprochen hilfreich. Moment, denken Sie vielleicht, dann muss ich mir ja schon wieder etwas „Kompliziertes“ merken. Nicht wirklich, denn wenn Sie Such-Kombinationen entdeckt haben, die für Sie besonders hilfreich sind, so können Sie diese Suchen speichern. Um sich z. B. nur jene Notizen anzeigen zu lassen, die Sie innerhalb der letzten 3 Tage erstellt oder bearbeitet haben, müssten Sie ins Suchfeld eingeben „any: updated:day-3 created:day-3“. Sie können dieser Suche aber eine einprägsame Bezeichnung geben, z. B. „kürzlich“ oder „seit 3 Tagen“. Später genügt ein Klick auf diese Bezeichnung – und die Suche wird ausgeführt. Übrigens werden auch Ihre gespeicherten Suchen synchronisiert, stehen Ihnen also gleichzeitig auf dem Desktop, in der Web-Ansicht und auf den mobilen Geräten zur Verfügung.
Favoriten nutzen
Die linke obere Ecke für die Favoriten ist ausgesprochen nützlich. Dort können Sie z. B. auch gespeicherte Suchen einfügen. Sie können dort aber auch auf spezielle Schlagwörter, Einzelnotizen, Notizbücher und sogar Notizbuchstapel verweisen. Im diesem Blog habe ich recht viele Tipps erläutert, die der besseren Nutzung der Favoriten dienen – einfach mal stöbern.
Möglichst wenig Tools verwenden
Ausführlich habe ich ja bereits beschrieben, warum ich an einigen Stellen Evernote mit weiteren Tools ergänze („Mit Todoist Ziele – tatsächlich – erreichen„), denn Evernote kann nicht alles leisten. Aber unschätzbar ist der Vorteil, wenn das „Hauptwerkzeug“ über Jahre hinweg gleich bleibt. Ich habe da – in meiner „Vor-Evernote-Zeit“ – ganz ähnliche Erfahren wie Thomas Boley gemacht (lesenswert in seinem Blog: „Jenseits von Evernote„). Von TiddlyWiki ging es zu Mediawiki, von TreeDB zu OneNote usw. usw. Und immer musste ich nach einiger Zeit überlegen: Moment – hast Du das in dem Programm oder in jenem gespeichert? Oder war es nur eine Word-Datei? Hast Du das synchronisiert … hast du … wie funktionierte es gleich noch mal in dieser Software …
Wenn hingegen die Unterlagen an einem einzigen Ort sind und man noch dazu mit der Bedienung vertraut ist, muss man nicht lange überlegen, man weiß, wie man etwas speichert, findet, aufbewahrt, sichert, ergänzt, aktualisiert. Natürlich gibt es immer wieder ein Tool, das diesen oder jenen Punkt besser als Evernote beherrscht: hier kann man in der Notiz auch Berechnungen vornehmen, dort sehen Tabellen besser aus und bei Tool C ist die Freigabe einfacher. Aber ein ständiges „Tool-Hopping“ zahlt sich erfahrungsgemäß nicht aus.
Wie gesagt: Es gibt viele Evernote-Anwender, die ihr Archiv anders organisieren oder erfolgreich eine Methode befolgen. Meine Überlegungen und die einfachen Anregungen sind für jene gedacht, die ständig ein schlechtes Gewissen haben, weil sie denken: Man müsste es noch besser machen. Kann man. Muss man aber nicht.
Und zum Schluss noch ein Lesetipp: Das heute erschienene SZ-Magazin steht unter dem Thema „Ordnung muss sein“. Darin der Artikel von Marc Baumann: „List und Tücke“ mit der Einleitung: „To-do-Listen sollen helfen, im Arbeitsalltag den Überblick zu behalten. Doch tatsächlich zeigen sie vor allem, was man wieder nicht geschafft hat.“ Passt doch 😉
[1] Bei Luther: „Sei nicht allzu gerecht und nicht allzu weise.“ Korrekt wäre wohl: „Werde nicht zu gerecht …“ – was die Leser dieses Blogs nicht sonderlich interessieren wird, der Hinweis ist nur als kleine Reminiszenz an meine frühere Hebräisch-Dozentin gedacht.
[2] Natürlich in einer Evernote-Notiz – aber ich liebe diese analogen Bilder, die an vergangene Jahrhunderte erinnern.
[3] Jochen Leffers: „Wer sortiert, verliert“. http://www.spiegel.de/karriere/berufsleben/e-mail-dauerfeuer-wer-sortiert-verliert-a-764737.html, Zugriff 14. 8. 2015
[4] „Der Traum vom leeren Schreibtisch“. FAZ v. 15. 2. 2008. http://www.faz.net/aktuell/beruf-chance/arbeitswelt/zeitmanagement-der-traum-vom-leeren-schreibtisch-1513543-p3.html?printPagedArticle=true#pageIndex_3
[5] Seit einigen Jahren gibt es auch Forscher, die Selbstdisziplin eher als Konstante ansehen; wenn ich es richtig sehe, sind diese aber in der Minderheit.
[6] Der Sohnemann hat es also leichter, Sie um Geld für eine neue Action-Figur zu bitten, wenn Sie erschöpft aus dem Büro kommen – im Unterschied zur gleichen Frage beim Frühstückstisch. Rechnen Sie allerdings nicht in allen Fällen mit diesem Effekt: Erschöpfte Frauen in Abendlokalen bringen doch noch erstaunlich oft die Energie auf, „Nein“ zu sagen …
[7] Es gibt zwar auch Anwender, die eine regelrechte eigene Taxonomie aufgebaut haben – samt verschachtelter Struktur – fein. Wenn Ihnen das liegt, dann verfahren Sie so, wahrscheinlich werden Sie tatsächlich damit schneller Ihre Unterlagen finden.
Mal wieder schön formuliert und auf den Punkt gebracht. Genau so ist es.
Ich habe mich gerade mal gefragt, wie oft ich Tags beim Nachschauen in Evernote bisher genutzt habe. Antwort: nie! Ich werde die alle löschen und nur noch dann verwenden, wenn ich Notizen theoretisch in mehrere Notizbücher speichern müsste. Wie bei E-Mails, die Suche ist eigentlich immer perfekt genug.
Wie gesagt: Es gibt viele Wege, die zum Ziel führen – zum Glück ist Evernote flexibel genug. Es gibt durchaus Anwender, die mit Schlagwörtern sehr gescheite Systeme aufbauen – kommt immer auf den Verwendungszweck an. Hier ging es aber jetzt eher um die Bewältigung der täglichen „Informationsflut“.
»… kommt immer auf den Verwendungszweck an …«
Das hatte mir gefehlt! Denn ein gerüttelt Maß an Notizbüchern und auch Schlagworten kann für ein reines Info-/Gedankenstützen-/Wissens-/Sammel-/Tagebuch-System sehr wohl hilfreich, nicht aber unbedingt für ein Arbeitssystem wie im Artikel beschrieben, dass viel eher nach Favoriten, Suchfunktionen und vor allem Erinnerungen lechzt.
Nebenbei: Der Inhalt der Fußnote 6 ging mir schon beim Lesen des Haupttextes sinngemäß durch den Kopf. 😀